Ihr Menschen! Ihr Ungeheuer!
Ihr Ungeheuer mit Namen Hans! Mit diesem Namen, den ich nie vergessen kann.
Immer wenn ich durch die Lichtung kam und die Zweige sich öffneten, wenn die
Ruten mir das Wasser von den Armen schlugen, die Blätter mir die Tropfen von den
Haaren leckten, traf ich auf einen, der Hans hieß.
Ja, diese Logik habe ich gelernt, daß einer Hans heißen muß, daß ihr alle
so heißt, einer wie der andere, aber doch nur einer. Immer einer nur ist es, der
diesen Namen trägt, den ich nicht vergessen kann, und wenn ich euch auch alle
vergesse, ganz und gar vergesse, wie ich euch ganz geliebt habe. Und wenn eure
Küsse und euer Samen von den vielen großen Wassern - Regen, Flüssen, Meeren -
längst abgewaschen und fortgeschwemmt sind, dann ist doch der Name noch da, der
sich fortpflanzt unter Wasser, weil ich nicht aufhören kann, ihn zu rufen, Hans,
Hans, ...
Ihr Monstren mit den festen und unruhigen Händen, mit den kurzen blassen Nägeln,
den zerschürften Nägeln mit schwarzen Rändern, den weißen Manschetten um die
Handgelenke, den ausgefransten Pullovern, den uniformen grauen Anzügen, den
groben Lederjacken und den losen Sommerhemden! Aber laßt mich genau sein, ihr
Ungeheuer, und euch jetzt einmal verächtlich mache, denn ich werde nicht
wiederkommen, euren Winken nicht mehr folgen, keiner Einladung zu einem Glas
Wein, zu einer Reise, zu einem Theaterbesuch. Ich werde nie wiederkommen, nie
wieder Ja sagen und Du und Ja. All diese Worte wird es nicht mehr geben, und ich
sage euch vielleicht, warum. Denn ihr kennt doch die Fragen, und sie beginnen
alle mit "Warum?" Es gibt keine Fragen in meinem Leben. Ich liebe das Wasser,
seine dichte Durchsichtigkeit, das Grün im Wasser und die sprachlosen Geschöpfe
(und so sprachlos bin auch ich bald!), mein Haar unter ihnen, in ihm, dem
gerechten Wasser, dem gleichgültigen Spiegel, der es mir verbietet, euch anders
zu sehen. Die nasse Grenze zwischen mir und mir ...
Ich habe keine Kinder von euch, weil ich keine Fragen gekannt habe, keine
Forderungen, keine Vorsicht, Absicht, keine Zukunft und nicht wußte, wie man
Platz nimmt in einem anderen Leben. Ich habe keinen Unterhalt gebraucht, keine
Beteuerung und Versicherung, nur Luft, Nachtluft, Küstenluft, Grenzluft, um
immer wieder Atem holen zu können für neue Worte, neue Küsse, für ein
unaufhörliches Geständnis: Ja. Ja. Wenn das Geständnis abgelegt war, war ich
verurteilt zu lieben; wenn ich eines Tages freikam aus der Liebe, mußte ich
zurück ins Wasser gehen, in dieses Element, in dem niemand sich ein Nest baut,
sich ein Dach aufzieht über Balken, sich bedeckt mit einer Plane. Nirgendwo
sein, nirgendwo bleiben. Tauchen, ruhen, sich ohne Aufwand von Kraft bewegen -
und eines Tages sich besinnen, wieder auftauchen, durch eine Lichtung gehen,
ihn sehen und "Hans" sagen. Mit dem Anfang beginnen.
"Guten Abend."
"Guten Abend."
"Wie weit ist es zu dir?"
"Weit ist es, weit."
"Und weit ist es zu mir."
Einen Fehler immer wiederholen, den einen machen, mit dem man ausgezeichnet ist. Und was hilft's dann, mit allen Wassern gewaschen zu sein, mit den Wassern der Donau und des Rheins, mit denen des Tiber und des Nils, den hellen Wassern der Eismeere, den tintigen Wassern der Hochsee und der zaubrischen Tümpel? Die heftigen Menschenfrauen schärfen ihre Zungen und blitzen mit den Augen, die sanften Menschenfrauen lassen still ein paar Tränen laufen, die tun auch ihr Werk. Aber die Männer schweigen dazu. Fahren ihren Frauen, ihren Kindern treulich übers Haar, schlagen die Zeitung auf, sehen die Rechnungen durch oder drehen das Radio laut auf und hören doch darüber den Muschelton, die Windfanfare, und dann noch einmal, später, wenn es dunkel ist in den Häusern, erheben sie sich heimlich, öffnen die Tür, lauschen den Gang hinunter, in den Garten, die Alleen hinunter, und nun hören sie es ganz deutlich: Den Schmerzton, den Ruf von weither, die geisterhafte Musik. Komm! Komm! Nur einmal komm!
Aus der Erzählung "Undine geht" von Ingeborg Bachmann